Die neue Beichte
Mich selbst bejahen lernen
Jede Frage nach dem Sinn des Lebens ist immer auch die Frage nach mir selbst: Wer bin ich eigentlich? Wo komme ich her? Wo will ich hin?
Auf diese Frage gibt es nicht die eine Antwort. Sie lässt sich vor allem nicht von einem anderen Menschen oder gar einer Institution beantworten. Sie kann aber durch meinen eigenen Lebensweg klarer werden und mich schrittweise zu mir selbst führen.
Auf diesem Wege zu helfen, ohne ihn von außen vorzugeben, ist das Anliegen des Beichtsakramentes in der Christengemeinschaft. Sie hat nicht „Sünde“ und „Reue“ im Blick, sondern die eigenständige Beziehung jedes Menschen zu seinem persönlichen Schicksal.
Krankheit oder persönliche Schuld?
Wer eine Grippe hat und im Bett liegt, von dem wird niemand sagen, er „lässt sich hängen“ oder er sei ein „schlechter Mensch“. Krankheiten würde man nie moralisch beurteilen, sie kommen von selbst und gehören zum Leben dazu.
Trotzdem wartet man nicht, bis eine Krankheit von selbst vorbeigeht, sondern man kann etwas tun, um sie zu heilen. Dadurch übernimmt man Verantwortung für etwas, das man nicht selbst verursacht hat.
Das altmodische, moralisch belastete Wort „Sünde“ leitet sich von dem altsächsischen Wort „sunnea“ ab und bedeutet soviel wie „Not“ oder „Krankheit“. Auch im Schicksal gibt es Schwächen und Krankheiten, die nicht persönlich verursacht sind, sondern einfach damit zusammenhängen, dass wir als Menschen auf der Erde leben.
In der Menschenweihehandlung, dem Abendmahlsgottesdienst der Christengemeinschaft, wird diese Krankheit „Sündenkrankheit“ genannt. Sie äußert sich zunächst einfach darin, dass ich Müdigkeit, Hunger und Durst erlebe (mich also nicht immer im Gleichgewicht befinde). Sie wirkt sich aber auch seelisch aus, z.B. wenn ich mich mit einem anderen missverstehe, träge oder zornig bin, wenn ich Hochmut oder Verachtung gegenüber einem Menschen empfinde – vielleicht sogar gegenüber mir selbst.
Im seelischen Bereich kann die Sündenkrankheit also dazu führen, dass ich nicht nur selber daran leide, sondern anderen Menschen Leid zufüge. Und hier beginnt der Bereich, wo ich mich selber schuldig mache – meist ohne es zu wollen – und wo ich selbst Verantwortung trage, die Beziehung zu anderen Menschen und zu mir selbst wieder zu heilen.
Schicksal und Freiheit
Wäre das Leben vorbestimmt durch irgendeine „Vorsehung“, dann wäre es sinnlos, irgendetwas aus eigener Verantwortung tun zu wollen, denn es gäbe keine Freiheit.
Es ist ja offensichtlich, dass mir laufend Dinge geschehen, die ich nicht selbst vorhersehen kann und die ich nicht selbst herbeigeführt habe. Wenn ich aber in einer konkreten Situation bin, habe ich fast immer die Möglichkeit, sie mitzugestalten und durch mein Verhalten zu beeinflussen. Außerdem tue ich Dinge, die ich selbst entscheide und verantworte. Die Folgen dieser Ereignisse kommen vielleicht auch wie von außen auf mich zu, aber ich habe sie selbst herbeigeführt.
Ich bin also nicht entweder „vorbestimmt“ oder „frei“, sondern beides begegnet sich auf meinem Lebensweg, in meinem persönlichen Schicksal. Ich selbst bin der Schauplatz, wo die Welt verändert wird, indem ich aus dem, was mir begegnet, selbst etwas gestalte.
Die neue Beichte – bejahen statt verdrängen
Als Mensch habe ich die Möglichkeit, mich an meine Vergangenheit zu erinnern, also mir mein Schicksal innerlich bewusst vor Augen zu führen. Ich bin aber auch fähig, Erlebnisse zu verdrängen und mich dadurch nicht nur von diesem Ereignis, sondern eigentlich von meinem Schicksal, von mir selbst abzutrennen.
Wie das Wort Sünde hat auch das alte, belastete Wort „Beichte“ ursprünglich eine sehr schöne Bedeutung: Es stammt von dem althochdeutschen Wort „bijehan“ und bedeutet einfach „bejahen“.
In dem neuen Beichtsakrament geht es nicht um Reue und Buße. Es geht darum, zum eigenen Schicksal ein eigenständiges, kreatives, bejahendes Verhältnis zu entwickeln und dadurch im Leben handlungsfähiger und allmählich seelisch gesund zu werden.
Geliebt werden und lieben lernen
Sich selbst und das eigene Schicksal anzunehmen und bejahen zu lernen hat nichts zu tun mit „schön reden“. Ich kann aber versuchen, mein Leben genau anzusehen. Dabei kann ich auch in den Dingen, die ich vielleicht nicht bejahen kann, Bereiche entdecken, die gut sind und die ich annehmen und gutheißen kann, ohne sie schön reden zu müssen. Ich entdecke, was in meinem Leben liebenswert ist.
Das kann mir kein anderer sagen, ich kann mir aber im Gespräch helfen lassen, diesen Blick zu üben. Denn sehen kann ich es selbst.
Durch das neue Beichtsakrament kann ich lernen, mir meine Erinnerung so wach ins Bewusstsein zu bringen, dass sie zum Tor in mein eigenes Inneres wird. Denn dort kann ich den Christus finden, dem nichts in der menschlichen Seele fremd ist, der mich nicht verurteilt, sondern annimmt.
Indem ich erlebe, dass ich selbst geliebt und angenommen werde, kann ich lernen, auch mich selbst und schließlich sogar andere Menschen anzunehmen und zu lieben – auch die, die mir gar nicht sympathisch sind. Denn einen Menschen zu lieben heißt nicht, ihn sympathisch zu finden, sondern ihn so genau wahrzunehmen, dass ich entdecke, was an ihm liebenswert ist.
Der äußere Ablauf des Sakramentes
Das Beichtsakrament in der Christengemeinschaft ist ein Gespräch mit einem Priester, das seinen Abschluss findet in einem kurzen rituellen Wortlaut, der vom Priester im Gewand gesprochen wird. Es schließt sich (in der Regel am folgenden Tag) die Menschenweihehandlung an mit der Kommunion von Brot und Wein.
Der Priester kann auch schon während des Gespräches das Gewand tragen. Hier gibt es einen gewissen Gestaltungsspielraum.
Um ein solches Gespräch zu führen, muss ich nicht große Schicksalsschläge abwarten, sondern ich kann einfach von Zeit zu Zeit diese Bewegung üben, mir etwas innerlich genau vor Augen zu führen, um Klarheit zu gewinnen, um zu mir selbst zu kommen. Das Beichtsakrament kann jederzeit unabhängig von einem Problem als selbstverständlicher Vorgang aufgesucht werden.
Der Priester hat bezüglich allem, was im Gespräch vorkommt, Schweigepflicht.
Meine persönlichsten Fragen und die Gemeinschaft
Für das Gespräch gibt es kein Tabu-Thema. Gerade wenn ich mit äußeren Methoden in einer Frage nicht weiter komme, kann es sinnvoll sein, diese Angelegenheit im Beichtsakrament zu bewegen, um ihrer geistigen Dimension nachzugehen und so Heilung zu finden.
Da an das Beichtsakrament immer die Menschenweihehandlung anschließt, bekommt meine persönliche Angelegenheit aber für die ganze Gemeinschaft eine heilende Bedeutung: Was ich unter dem Schutz des Schweigens mit dem Priester bewegt habe, kann in der Menschenweihehandlung verwandelt werden: Wie Christus Brot und Wein annimmt und sich so tief damit verbindet, dass er sagen kann: „Dies ist mein Leib und mein Blut“ – so tief verbindet er sich auch mit dem, was ich still in die Weihehandlung hineintrage.
So wird mir mein Schicksal in Brot und Wein verwandelt als Kraft zurückgegeben, und zugleich kommt es allen Menschen als „heilende Arznei“ zugute. Was mich selbst vielleicht belastet hat, wird nicht als Last auf andere verteilt, sondern es wird zu einer heilenden Kraft für die ganze Gemeinschaft. Die neue Beichte ist insofern ein zutiefst soziales Sakrament.
Text: Claudio Holland